Mittwoch, 22. September 2021

EuGH-Urteil vom 09.09.2021: Droht eine neue „Widerrufswelle“?

Sabine Kröger, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Bank- und Kapitalmarktrecht und Handels- und Gesellschaftsrecht, SKW Schwarz Rechtsanwälte, München 

 

Mit Urteil vom 09.09.2021, Rs.: C-33/20, C-155/20 und C-187/20, hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in einem Vorabentscheidungsverfahren über notwendige Bestandteile von Verbraucherkreditverträgen entschieden und bei dem Fehlen derartiger Pflichtangaben den Einwand der Verwirkung und des Rechtsmissbrauchs des Kreditgebers ausgeschlossen und damit die Hoffnung bei vielen Kreditnehmern geweckt, ihre Verträge gegenüber Kreditinstituten (auch noch lange nach deren Abschluss) widerrufen zu können. Eine berechtigte Hoffnung?

 

Gegenstand der verbundenen Verfahren vor dem EuGH war der konkrete Inhalt einzelner zwingender Angaben (Pflichtangaben) gemäß Art. 10 der Verbraucherkreditrichtlinie (RL 2008/48/EG), welcher in den streitgegenständlichen Autokreditverträgen von Autobanken abzubilden war. Der EuGH entschied dabei überwiegend zu Gunsten der Verbraucher und legte einzelne Vorgaben des Europarechts anders aus als der Bundesgerichtshof (BGH) die entsprechenden Bestimmungen des nationalen Rechts bislang ausgelegt hat.

 

So entschied der EuGH unter anderem, dass die Angabe zum Verzugszinssatz (Art. 10 Abs. 2 l) RL; vgl. auch Art. 247 § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3 Abs. 1 Nr. 11 EGBGB) bedinge, den zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Satz der Verzugszinsen in Form eines konkreten Prozentsatzes anzugeben und den Anpassungsmechanismus des Verzugszinssatzes konkret zu beschreiben. Der Verweis auf einen nach Maßgabe des von der Zentralbank eines Mitgliedstaats festgelegten und in einem für jedermann leicht zugänglichen Amtsblatt bekannt gegebenen Änderung des Basiszinssatzes reiche nur dann aus, wenn die Berechnungsmethode für den Verzugszinssatz beschrieben werde. Dabei müsse die Darstellung dieser Berechnungsmethode für einen Durchschnittsverbraucher leicht verständlich sein und es ihm ermöglichen, den Verzugszinssatz auf der Grundlage der Vertragsangaben zu berechnen, und die Häufigkeit der Änderung dieses Basiszinssatzes in dem Vertrag selbst angegeben werden.

 

Im Kreditvertrag müsse zudem – so der EuGH – die Methode für die Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung (Art. 10 Abs. 2 r) RL; vgl. auch Art. 247 § 7 Abs. 1 Nr. 3 EGBGB) in einer konkreten und für einen Durchschnittsverbraucher leicht nachvollziehbaren Weise angegeben werden, so dass dieser die Höhe der Vorfälligkeitsentschädigung anhand der Vertragsinformationen bestimmen kann. Ein bloßer Verweis auf die von einem nationalen Gericht (wie dem BGH) vorgeschriebenen finanzmathematischen Rahmenbedingungen genüge insoweit nicht. 

 

Weiter seien nach Auffassung des EuGH hinsichtlich der dem Verbraucher zur Verfügung stehenden außergerichtlichen Beschwerde- oder Rechtsbehelfsverfahren (Art. 10 Abs. 2 t) RL; vgl. auch Art. 247 § 7 Abs. 1 Nr. 4 EGBGB) im Kreditvertrag die wesentlichen Informationen über derartige Verfahren zu geben und ggf. die mit diesen Verfahren verbundenen Kosten, sowie Informationen darüber, ob die Beschwerde/der Rechtsbehelf per Post oder elektronisch einzureichen ist, über die physische oder elektronische Beschwerdeadresse und über die sonstigen formalen Beschwerdevoraussetzungen. Dabei reiche ein bloßer Verweis auf eine im Internet abrufbare Verfahrensordnung oder auf ein anderes Schriftstück oder Dokument nicht aus.

 

Nach Auffassung des EuGH sei es zudem aufgrund seiner Auslegung von Art. 14 Abs. 1 RL dem Kreditgeber verwehrt, sich gegenüber der Ausübung des Widerrufsrechts durch den Verbraucher auf den Einwand der Verwirkung oder des Rechtsmissbrauchs zu berufen, wenn eine der in Art. 10 Abs. 2 RL vorgesehenen zwingenden Angaben im Kreditvertrag nicht enthalten und auch nicht nachträglich ordnungsgemäß mitgeteilt wurden, unabhängig davon, ob der Verbraucher von seinem Widerrufsrecht Kenntnis hatte, ohne dass er diese Unkenntnis zu vertreten hat.

 

PRAXISTIPPS

 

  • Vor dem Hintergrund der aktuellen EuGH-Entscheidung ist durchaus zu befürchten, dass erneut zahlreiche Darlehensnehmer ihre Darlehensverträge mit dem Verweis auf fehlende/fehlerhafte Pflichtangaben widerrufen.

 

  • Die Kreditinstitute können sich aber mit der bisherigen BGH-Rechtsprechung weiterhin mit guten Gründen auf den Standpunkt stellen, dass jedenfalls bei Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträgen die Verbraucherkreditrichtlinie ohnehin keine Anwendung findet und daher die Auslegungen des EuGH hierzu irrelevant sind. Zudem hat der BGH bislang den Verwirkungseinwand und den Rechtsmissbrauchseinwand (im Sinne des nationalen Rechts; § 242 BGB) für bestimmte Einzelfälle bejaht, wie beispielsweise den Verwirkungseinwand bei vollständig zurückgeführten Darlehen und der Freigabe von Sicherheiten durch das Kreditinstitut (st. Rspr.; vgl. u. a. BGH, Beschluss vom 23.01.2018, Az.: XI ZR 298/17).

 

  • Weiter ist zu erwarten, dass der BGH auch künftig an seinen gefundenen Auslegungen von/Anforderungen an Pflichtangaben nach nationalem Recht festhalten und eine (erneute) Vorlage an den EuGH zu den vorgenannten Fragestellungen ablehnen wird. Denn der BGH urteilt danach, ob Angaben und Einwände nach den Maßstäben des nationalen Rechts rechtmäßig/zulässig sind. Gibt es eindeutige und damit nicht auslegungsfähige nationale Regelungen, können diese nicht richtlinienkonform i. S. e. ggf. gegensätzlichen Verständnisses des EuGH ausgelegt werden, da die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31.03.2020, Az.: XI ZR 198/19 und Az.: XI ZR 581/18 im Gegensatz zum EuGH-Urteil vom 26.03.2020, Az.: C-66/19 zum sogenannten „Kaskadenverweis“). Der BGH hatte sich an den vom EuGH konkret im Urteil vom 09.09.2021 zu beurteilenden Pflichtangaben der betroffenen Autobanken zum Verzugszinssatz, der Vorfälligkeitsentschädigungsberechnung und den Beschwerdeverfahren bislang nicht gestört (vgl. BGH, Urteil vom 23.02.2021, Az.: XI ZR 73/20; BGH, Urteil vom 05.11.2019, Az.: XI ZR 650/18).

 

  • Auf der Grundlage der bisherigen BGH-Rechtsprechung ergeben sich also aus der aktuelle EuGH-Entscheidung keine direkten Rechtsfolgen für die Rechtsbeziehung zwischen dem Verbraucher und seinem Kreditinstitut. Durch die Entscheidung können sich vorwiegend zunächst Fragen nach der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung des korrespondierenden nationalen Rechts ergeben. Derartige Entscheidungen bleiben abzuwarten. Eine „Widerrufswelle“ wird aber schon deshalb nicht zu warten sein, da die EuGH-Entscheidung (nur) die Auslegung der Verbraucherkreditrichtlinie und damit Allgemein-Verbraucherdarlehensverträge betrifft. Für Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge gelten die Vorgaben dieser Richtlinie nach den Maßstäben des BGH nicht und die Instanzengerichte sind insoweit bislang ganz überwiegend dem BGH gefolgt. 

Beitragsnummer: 18337

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