Dienstag, 19. Oktober 2021

EuGH zur Verwirkung und zum Vorfälligkeitsjoker

Prof. Dr. Hervé Edelmann, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner 

 

In seiner Entscheidung vom 09.09.2021, Az. C-33/20, 155/20 u. 187/20 hat der EuGH zunächst zu sog. Pflichtangaben Stellung genommen und ausgeführt,

  • dass Art. 10 Abs. 2 der RL 2008/48 dahingehend auszulegen ist, dass im Kreditvertrag ggf. in klarer, prägnanter Form angegeben werden muss, dass es sich um einen „verbundenen Kreditvertrag“ i. S. v. Art. 3n dieser Richtlinie handelt und dass dieser Vertrag als befristeter Vertrag abgeschlossen worden ist (Rn. 74),

 

  • dass Art. 10 Abs. 3 der RL 2008/48 nicht verlangt, dass in einem „verbundenen Kreditvertrag“ angegeben wird, dass der Verbraucher in Höhe des ausgezahlten Betrags von seiner Verbindlichkeit zur Zahlung des Kaufpreises befreit ist und dass der Verkäufer ihm, sofern der Kaufpreis vollständig beglichen ist, den gekauften Gegenstand auszuhändigen hat (Rn. 80),

 

  • dass Art. 10 Abs. 2l der RL 2008/48 dahingehend auszulegen ist, dass in dem Kreditvertrag der zum Zeitpunkt des Abschlusses dieses Vertrages geltende Satz der Verzugszinsen in Form eines konkreten Prozentsatzes anzugeben ist. Zudem ist der Mechanismus der Anpassung des Vertragszinssatzes konkret zu beschreiben. Wenn die Parteien des betreffenden Kreditvertrages vereinbart haben, dass der Verzugszinssatz nach Maßgabe des von der Zentralbank eines Mitgliedsstaats festgelegten und in einem für jedermann leicht zugänglichen Amtsblatt bekannt gegebenen Änderung des Basiszinssatzes geändert wird, dann reicht nach Auffassung des EuGH ein Verweis im Kreditvertrag auf diesen Basiszinssatz, sofern die Methode zur Berechnung des Satzes der Verzugszinsen nach Maßgabe des Basiszinssatzes in diesem Vertrag beschrieben wird (Rn. 95),

 

  • dass Art. 10 Abs. 2r der RL 2008/48 so zu verstehen ist, dass im Kreditvertrag die Methode für die Berechnung der bei vorzeitiger Rückzahlung des Darlehens fälligen (Vorfälligkeits-)Entschädigung in einer konkreten und für einen Durchschnittsverbraucher leicht nachvollziehbaren Weise anzugeben ist, sodass dieser die Höhe der Vorfälligkeitsentschädigung anhand der in diesem Vertrag erteilten Informationen (selbst) bestimmen kann (Rn. 102), 

 

  • dass Art. 10 Abs. 2 der RL 2008/48 nicht verlangt, dass im Kreditvertrag alle Situationen anzugeben sind, in denen den Parteien des Kreditvertrags ein Kündigungsrecht nicht durch diese Richtlinie, sondern nur durch die innerstaatliche Regelung zuerkannt wird (Rn. 112),

 

  • dass im Kreditvertrag die wesentlichen Informationen über alle dem Verbraucher zur Verfügung stehenden außergerichtlichen Beschwerde- oder Rechtsbehelfsverfahren und ggf. die mit diesen Verfahren verbundenen Kosten anzugeben sind (Rn. 138).

 

  • dass Art. 14 Abs. 1 der RL 2008/48 dahingehend auszulegen ist, dass es dem Kreditgeber verwehrt ist, sich gegenüber der Ausübung des Widerrufsrechts durch den Verbraucher auf den Einwand der Verwirkung zu berufen, wenn zwingende Pflichtangaben weder im Kreditvertrag enthalten noch nachträglich ordnungsgemäß mitgeteilt worden sind; dies unabhängig davon, ob der Verbraucher von seinem Widerrufsrecht Kenntnis hatte (Rn. 118) und dass der Kreditgeber darüber hinaus in einem solchen Fall dem seinen Vertrag widerrufenden Verbraucher nicht den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs entgegenhalten darf, und zwar unabhängig davon, ob der Verbraucher von seinem Widerrufsrecht Kenntnis hatte (Rn. 126 f.).

 

Begründet hat der EuGH letztere beiden Punkte allein damit, dass die Richtlinie 2008/48 „keine zeitliche Beschränkung der Ausübung des Widerrufsrechts durch den Verbraucher vorsieht“ (Rn. 117) und dass die „Abschreckungswirkung“ zur Vermeidung von RL-Verstoßen ansonsten verloren ginge (Rn. 125).


PRAXISTIPPS

Obwohl vorstehender EuGH-Entscheidung auch schon vor Widerruf zurückgeführte Darlehen zugrunde lagen und der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom 15.06.2021 (vgl. Rn. 101-109) dem EuGH – entsprechend der Rechtsprechung des BGH – empfohlen hatte, die Berufung auf Verwirkung und Rechtsmissbrauch nur bei noch bestehenden Darlehensverträgen zu untersagen, da ein Widerrufsrecht nach vollständiger Erfüllung des Kreditvertrags durch beide Parteien nach der RL 2008/48 nicht mehr besteht, hat sich der EuGH in seinen mehr als rudimentären Ausführungen zur Verwirkung und zum Rechtsmissbrauch hiermit in keinster Weise auseinandergesetzt; dies obwohl dem EuGH nicht entgangen sein dürfte, dass der Bundesgerichtshof dem Verwirkungs- und Rechtsmissbrauchseinwand grundsätzlich bei noch laufenden und bestehenden Darlehensverträgen nur ganz ausnahmsweise Beachtung schenkt, bei längst zurückgeführten Verträgen hingegen schon.

 

Auch hat sich der EuGH nicht mit seiner eigenen Rechtsprechung auseinandergesetzt, wonach auch nach europäischem Recht die Ausübung bestehender Rechte/Ansprüche rechtsmissbräuchlich und damit auch verwirkt sein können. Dies wäre jedoch zwingend notwendig gewesen. Denn vorliegend geht es nicht darum, ob das Widerrufsrecht einer zeitlichen Beschränkung unterliegt, sondern allein darum, ob das bestehende Recht verwirkt ist oder rechtsmissbräuchlich ausgeübt wird.

 

Vor diesem Hintergrund muss davon ausgegangen werden, dass der EuGH die an ihn vom LG Ravensburg (BeckRS 2020, 3265) gestellten Fragen nicht verstanden hat. Denn der EuGH befasst sich an keiner Stelle seiner Entscheidung mit der streitrelevanten Frage, ob die Rechtsinstitute der Verwirkung und des Rechtsmissbrauchs auch im europäischen Recht existieren und anwendbar sind. Auch geht er mit keinem Wort darauf ein, ob die Tatbestandsvoraussetzung der Verwirkung oder des Rechtsmissbrauchs vorliegen und/oder mit europäischen Regelungen unvereinbar sind. Vielmehr tätigt er nur Ausführungen zur selbstverständlichen fehlenden Möglichkeit der zeitlichen Beschränkung der Ausübung des Widerrufsrechts und übersieht dabei, dass der Verwirkungs- und Rechtsmissbrauchseinwand erst dann nach deutschem Recht zum Tragen kommen, wenn der Verbraucher trotz einem längeren Zeitablauf sein Widerrufsrecht nach wie vor ausüben kann.

 

Es bleibt somit abzuwarten, ob der BGH diese Entscheidung des EuGH zum Anlass nehmen wird, seine Grundsätze zur Anwendbarkeit von Rechtsmissbrauch und Verwirkung im deutschen Recht insbesondere im Zusammenhang mit der Widerrufsthematik neu zu überdenken, wovon mangels Auseinandersetzung des EuGH mit der Verwirkungs- und Rechtsmissbrauchsthematik nicht auszugehen ist. Selbst wenn er dies jedoch tun sollte, müsste er feststellen, dass das Widerrufsrecht sowohl nach seiner eigenen Rechtsprechung als auch nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. nur BT-Drucks. 17/1394, S. 15 rechte Spalte sowohl BT-Drucks. 18/7584, S. 147), wie im Übrigen jedes andere Recht auch, nur unter dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs- und Verwirkungseinwand ausgeübt werden darf/kann.

 

Der BGH wird letztlich auch darüber entscheiden müssen, ob die Ausführungen des EuGH zur Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung (VFE) nicht nur bei Allgemein-Verbraucher-Darlehensverträgen, sondern auch bei Immobiliardarlehensverträgen Geltung entfalten und wie die EuGH-Entscheidung mit den im deutschen Gesetz enthaltenen Hinweis-Vorgaben zur Vorfälligkeitsentschädigung in Art. 247 S. 7 Abs. 1 Nr. 3 u. S. 7 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB zu vereinbaren ist, an die der BGH keine hohen Anforderungen stellt (vgl. BGH, Urteil v. 05.11.2019, Az. XI ZR 650/18). Hiervon unabhängig dürfte es entgegen den Vorstellungen des EuGHs schlichtweg ausgeschlossen sein, dem Verbraucher die Methode zur Berechnung der VFE so mitzuteilen, dass dieser allein, d. h. ohne fremde Hilfe, die Höhe der VFE ausrechnen und bestimmen kann.


Beitragsnummer: 18367

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