Mittwoch, 1. Juni 2022

Vorsatz und Fahrlässigkeit

Die Schuld als subjektiver Tatbestand der Strafrechtsnormen am Beispiel der Untreue

Dr. Hans Richter, OStA a. D., ehem. Hauptabteilungsleiter der Schwerpunktabteilungen für Wirtschaftsstraftaten der Staatsanwaltschaft Stuttgart

Wie in meinem letzten Beitrag (BP 06/2022) angekündigt, will ich Ihnen heute die Grundlagen der Feststellung der Schuld, also des „subjektiven Tatbestandes“ der Strafrechtsnormen am Beispiel der Untreue nach § 266 StGB erläutern. Auch hierbei soll – wie stets in meiner Rubrik – ein Beispielsfall aus der strafrechtlichen Praxis helfen. Vorab ist klarzustellen: Der Strafgesetzgeber hat – will er sein „schärfstes Schwert“ zur Sicherung der Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit schwersten Eingriffen in die elementaren Rechte seiner Bürger einsetzen – zunächst den Charakter der Norm „Kriminalstrafrecht“ klarzustellen. Strafgesetze sind nicht nur im hierfür speziell vorgesehenen Strafgesetzbuch (dem StGB) enthalten – es finden sich solche Normen vielmehr in nahezu jedem Gesetz. So enthalten vor allem das Steuer-, Handels-/Gesellschafts-, Kapitalmarkt-, Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht wirtschaftsstrafrechtliche Normen und werden die Grundlagen für dieses Strafrecht zunehmend in der Rechtssetzung der EU durch deren Verordnungen und Richtlinien festgelegt. Da „Strafe“ als die Zufügung eines Übels infolge eines Pflichtenverstoßes privat und auch exekutiv vielfältig verwendet wird, muss der Gesetzgeber dem Normunterworfenen deutlich machen, dass er den Angriff auf das unbedingt zu schützende gesellschaftliche Minimum ahnden will, die so zu ahndenden Handlungs- bzw. Unterlassungspflichten also „kriminelles“ Unrecht sind. Diese Klarstellung erfolgt ausschließlich durch die Benennung einer Kriminalstrafe als Rechtsfolge. Das deutsche Strafrecht kennt nur zwei Kriminalstrafen: Geldstrafe und Freiheitsstrafe; mindestens eine davon muss im Gesetzestext ausdrücklich erwähnt sein: Wer … handelt/unterlässt … ist mit einer Freiheits- und/oder einer Geldstrafe zu bestrafen.  

Der Gesetzgeber hat darüber hinaus die so zu ahndenden Handlungspflichten (die auch die Pflicht, Handlungen zu unterlassen, umfassen kann) so konkret wie möglich zu umschreiben. Dies geschieht im „objektiven Tatbestand“ der Strafnorm, den ich Ihnen am Beispiel der Untreue – bei dieser Norm war die Konkretisierung der Handlungsbeschreibung besonders schwer – in meinen vorangegangenen Beiträgen näher erläutert habe. Die Ausführung der so umschriebenen Handlung rechtfertigt aber noch nicht die Vorwerfbarkeit gegenüber dem Handelnden mit der Folge einer Übelszufügung verbunden mit einem ethischen Unwerturteil. Hierzu muss zusätzlich die „Schuld“ des Täters zur Überzeugung des Richters nachgewiesen werden. Diese ist (grundsätzlich) in dessen vorsätzlichem (Zuwider-)Handeln gegen die Pflichtbeschreibung der Strafrechtsnorm begründet. Enthält die Strafrechtsnorm keine Beschreibung der Vorwerfbarkeit, liegt deren Begründung stets im Vorsatz (§ 15 StGB) des Handelnden. Dieser muss sich auf alle Handlungsbeschreibungen erstrecken. Will der Gesetzgeber vom geforderten Nachweis des Vorsatzes abweichen, muss er dies im Strafgesetz klarstellen. So kann auch schlicht oder besonders sorgfaltswidriges Handeln als strafbar bestimmt werden, was der Strafgesetzgeber mit Fahrlässigkeit bzw. Leichtfertigkeit umschreibt. Auch können besondere Anforderungen an den Vorsatz gestellt werden (Absicht).

Es liegt auf der Hand, dass diese graduellen Unterschiede vor allem bei Nichtjuristen sehr häufig zu Fehlvorstellungen führen und so Strafbarkeitsrisiken verkannt werden. Hierfür ist die Untreue nach § 266 StGB ein gutes Beispiel. Geläufig ist zunächst, dass Wissen (also Kenntnis der Tatsachen) und Wollen bezüglich aller Tatbestandselemente (einschließlich des Ursachenzusammenhangs [„Kausalität“] zu einem etwaigen Taterfolg) Vorsatz bedeutet. Die notwendige Beweisführung zu vorsätzlichem Handeln umfasst einerseits den Ausschluss der (Täter-)Annahme, es liege lediglich ernsthaftes Vertrauen auf das Fehlen einer Tatvoraussetzung bzw. den Nichteintritt eines tatbestandlichen Erfolges (mithin Fahrlässigkeit) vor. Andererseits muss erkannt werden, dass der Gesetzgeber des § 266 StGB gerade keine Absicht (also zielgerichtetes Handeln), insbesondere weder Schädigungs- noch Bereicherungsabsicht normiert hat. Es reicht also auch für den Vermögensnachteil aus, wenn der Täter diesen Erfolg als „möglich, nicht ganz fernliegend“ erkannt und ihn zumindest „billigend in Kauf genommen hat (sog. „Eventualvorsatz“). Dies gilt ebenso für das Bestehen einer Vermögensbetreuungspflicht und die Pflichtverletzung (Täter kennt die der Pflichtwidrigkeit zu Grunde liegenden Tatsachen und ordnet sie zutreffend ein). Allerdings haben auch die Strafverfolgungsbehörden immer wieder Schwierigkeiten, das „Verschleifen“, also den Vorsatz zur Pflichtwidrigkeit gesondert vom Vorsatz zur Nachteilszufügung festzustellen, zu vermeiden. Dies soll das folgende Beispiel verdeutlichen:

Die P-GmbH handelt mit Spezialmaschinen. Gegenüber ihrer Hausbank, der S-Sparkasse, bestehen (im Hinblick auf ihre Eigenkapital- und Ertragslage) erhebliche Darlehensrückzahlungsverpflichtungen, denen sie seit geraumer Zeit nur schleppend nachkommt. L, der Hauptlieferant der P-GmbH, verlangt in dieser Situation die Garantieerklärung einer Bank für die Zahlung seiner Lieferungen für die nächsten zwölf Monate mit einem Volumen von 500 T€. Die beiden Geschäftsleiter der S-Sparkasse, G1 und G2, befürchten den Ausfall der bislang gewährten Kredite und vertrauen auf die ihnen von der P-GmbH vorgelegte positive Ertragsprognose für die Garantie-Zeit, die vom Steuerberater der P-GmbH erstellt worden war. In der Garantiezeit wird die P-GmbH insolvent; die Sparkasse wird in Höhe von 400 T€ von L aus den Garantien in Anspruch genommen. G1 erklärt, er habe „voll auf die Expertise des S vertraut“. G2 erklärt, verantwortlich sei G1, er habe lediglich „gegengezeichnet“; G1 sei bis jetzt immer zuverlässig gewesen.

Angesichts meiner vorangegangenen Kolumnen reicht hier der kurze Hinweis darauf, dass sowohl G1 als auch G2 dem Vermögen der S treuepflichtig sind, G1 seine Pflicht zur sorgfältigen Prüfung der Bonität der P und G2 seine Pflicht zur Prüfung, ob G1 seiner Prüfpflicht hinreichend nachgekommen ist, verletzt haben, und dass durch diese Pflichtverletzungen der S ein Vermögensschaden in Höhe von 400 T€ entstanden ist. Für den Nachweis der Schuld – also des vorsätzlichen Handelns – ist zunächst zu belegen, dass beide ihre Pflichtenstellung, den konkreten Inhalt ihrer jeweiligen Pflicht und des Abweichens hiervon, kannten, und dass G1 es mindestens für möglich gehalten hat, dass die Expertise des Steuerberaters nicht hinreichend für die Beurteilung der (voraussichtlichen) Ertragslage des Kunden ist und dies für G2 im Hinblick auf die unzureichende Prüfung der Entscheidung des G1 ebenso gilt (jeweils mindestens „bedingter Vorsatz“ der Pflichtverletzung). Unabhängig hiervon („Verschleifungsverbot“ auch beim Vorsatz!) ist hinsichtlich des Vermögensschadens festzustellen, ob sowohl G1 als auch G2 nicht nur die Gefahr des Schadenseintritts erkannt und in Kauf genommen“ haben, sondern sie den Vermögensnachteil auch „gebilligt“ haben. G1 muss davon ausgehen, dass er den Eintritt des Schadens als naheliegend erkannt und sich mit diesem – als ihm unerwünschtem – Erfolg „abgefunden“ hat, um andere Ziele zu erreichen, er also auch hinsichtlich des Vermögensnachteils der S mit (mindestens) bedingtem Vorsatz gehandelt (genauer: Prüfungen unterlassen) hat. Dass G2 von der Zuverlässigkeit des G1 ausgegangen ist (und ausgehen konnte), ändert nichts an dessen (vorsätzlicher) Pflichtverletzung – der Nachweis des Vorsatzes zum (hierdurch kausal verursachten) Vermögensnachteil würde jedoch voraussetzen, dass ihm die mangelnde Sachkenntnis des S oder doch mindestens das Fehlen der Ertragserwartung nachgewiesen werden kann. 

Andererseits werden Chancen der business judgement rule (BJR; § 93 Abs. 1 S. 2 AktG), die allgemein für unternehmerisches Handeln gilt, nicht gekannt und so nicht genutzt. Diese schafft einen „Haftungsfreiraum“ für pflichtwidriges Handeln. Seine Grenzen sind aber überschritten, wenn sich einem gewissenhaften Geschäftsmann das hohe Risiko eines Schadens aufdrängt und keine vernünftigen geschäftlichen Gründe dafürsprechen, es dennoch einzugehen. Dies ist bei Bankgeschäften grundsätzlich anzunehmen, wenn übliche und ordnungsgemäß bewertete Sicherheiten bei zweifelhafter Bonität nicht eingeholt sind. Die Nähe zur Beweisführung zum Vorsatz wird deutlich, wenn die Rechtsprechung es als ausreichend ansieht, dass der Entscheidungsträger im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung aus der Sicht eines ordentlichen Kreditsachbearbeiters vernünftigerweise annehmen durfte, dass seine Entscheidung auf der Basis angemessener Informationen getroffen wurde und dem Wohle der Gesellschaft diente.

Das BVerfG (BVerfG v. 23.06.2010 – 2 BvR 259/08, Rdn. 134) hat bereits 2010 festgestellt, dass bei den Pflichtigen der Kreditvergabe vorausgesetzt werden kann, dass diese „nach Ausbildung und Erfahrung“ die nötigen Fachkenntnisse haben. Zudem entfällt bei pflichtwidrigen Risikogeschäften der Vorsatz nicht deshalb, weil der Täter annimmt oder hofft, ein endgültiger Schadenseintritt werde abgewendet werden. Für das Wissenselement des Vorsatzes bei der Untreue, deren Erfolg schon in der (konkreten) Gefährdung des Vermögens des Treugebers liegen kann, reicht es aus, wenn der Täter die Umstände kennt, welche der konkreten Vermögensgefährdung zugrunde liegen und weiß, dass eine (wirtschaftlich als schadensgleich zu beurteilende) Gefährdung nach allgemeinen Bewertungsmaßstäben gegeben ist (mag er sie selbst auch anders bewerten). Ein Täter kann nicht auf das Ausbleiben des Taterfolges vertrauen, wenn er eine sehr gefährliche Handlung vornimmt und er den Erfolgseintritt dem Zufall überlässt. Danach spielt es keine Rolle, ob der Entscheidungsträger glaubt oder hofft, dass der Kredit letztlich dennoch zurückgeführt, die Forderung der Bank beglichen wird. 

Für die Feststellung des Vorsatzes von G1 im Hinblick auf den Vermögensnachteil in meinem Beispiels-Fall bedeutet dies, dass dieser damit rechnen muss, dass sein behauptetes Vertrauen auf die Expertise des S hinterfragt werden wird. Grundlage der behaupteten Bonität der P sind deren Absatz- und damit verbundene Preiserwartungen aufgrund der Lieferungen des L. Wenn diese Markt- und Marktentwicklungskenntnisse bei S nicht belegt waren, kennt G1 die Wertlosigkeit des Anspruchs seiner Bank gegen P nach allgemeinen Bewertungsansätzen. G2 weiß aufgrund seiner Ausbildung und Tätigkeit, dass er mit der „Gegenzeichnung“ Garant der Prüfung der Bonität durch G1 ist. Umfasst seine Prüfung nicht die wesentlichen Grundlagen der Bonitätsbewertung einschließlich ihres positiven Ergebnisses, „billigt“ er die aus deren Fehlen resultierende Wertlosigkeit des Anspruches der S.

Besondere Bedeutung erlangen in der Strafrechtspraxis – besonders im Hinblick auf den Vorsatz der Untreue – tatsächlich bestehende oder auch nur behauptete Irrtümer der Entscheidungsträger. Dem soll im folgenden Beitrag im BP 09/2022 nachgegangen werden.


Beitragsnummer: 21715

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