Freitag, 24. Juni 2022

Unionsrechtl. Missbrauchskontrolle trotz Rechtskraft von Mahnb./VB

Prof. Dr. Hervé Edelmann, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart


In seiner Entscheidung vom 17.05.2022, C-693/19 und -831/19 (ZIP 2022, 1176), musste sich der EuGH mit der Frage auseinandersetzen, ob ein Gericht im Zwangsvollstreckungsverfahren aus einem rechtskräftig erlangten Mahn-/Vollstreckungsbescheid die Rechtskraft dieses Bescheides insofern durchbrechen darf als es prüfen kann, ob der der titulierten Forderung zugrunde liegende Vertrag missbräuchliche Klauseln enthält mit der Konsequenz, dass, sollte dies der Fall sein, der rechtskräftige Mahn-/Vollstreckungsbescheid außer Kraft gesetzt werden kann.

Obwohl der EuGH die grundlegende Bedeutung des Grundsatzes der Rechtskraft anerkennt (Rn. 57) und zudem festhält, dass der Schutz des Verbrauchers im Zusammenhang mit der Missbrauchsrichtlinie nicht absolut ist (Rn. 58), meint der EuGH unter Hinweis auf den europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz, dass ohne eine wirksame Überprüfung der potenziellen Missbräuchlichkeit der in dem betreffenden Vertrag enthaltenen Klauseln die Einhaltung der durch die Richtlinie dem Verbraucher verliehenen Rechte nicht garantiert werden kann (Rn. 62).

Nachdem Mahn-/Vollstreckungsbescheide wiederum nur auf der Grundlage einer Schlüssigkeitsprüfung erlassen werden, ohne dass von Amts wegen die potenzielle Missbräuchlichkeit etwaiger dem Beschied zugrunde liegender Vertragsklauseln geprüft wird, sei nach Auffassung des EuGH bei Erlass eines Mahn-/Vollstreckungsbescheides die Einhaltung der dem Verbraucher durch die Missbrauchsrichtlinie eingeräumten Rechte nicht mehr garantiert und in ihrem Wesens- und Kerngehalt beeinträchtigt (Rn. 62 f.). Demgemäß müsse es nach Auffassung des EuGH einem nationalen Gericht auch im Zwangsvollstreckungsverfahren aus einem rechtskräftigen Mahn-/Vollstreckungsbescheid erlaubt sein, die diesem rechtskräftigen Titel zugrunde liegenden Vertragsklauseln auf deren Rechtsmissbräuchlichkeit hin zu überprüfen und bei Feststellung der Missbräuchlichkeit die entsprechende Klausel unangewendet lassen.

 

PRAXISTIPP

Nach deutschem Recht sind Vollstreckungsbescheide sowohl der formellen als auch der materiellen Rechtskraft fähig. Zwar ist auch im deutschen Recht anerkannt, dass die Rechtskraft eines im Mahnverfahren erwirkten Vollstreckungsbescheides durchbrochen werden kann. Allerdings ist ebenso anerkannt, dass allein die Wahl des Mahnverfahrens trotz der fehlenden Schlüssigkeitsprüfung eine Durchbrechung der Rechtskraft nicht herbeizuführen vermag, eine Rechtskraftdurchbrechung vielmehr nur dann in Betracht kommt, wenn der Gläubiger einen „unrichtigen" Vollstreckungsbescheid über einen solchen Anspruch erwirkt hat, obwohl er erkennen konnte, dass bei einer Geltendmachung im Klagewege bereits die gerichtliche Schlüssigkeitsprüfung nach dem Stand der Rechtsprechung zum Zeitpunkt des Antrags auf Erlass des Vollstreckungsbescheides zu einer Ablehnung seines Klagebegehrens führen musste (BGH, Urteil v. 16.11.1989, III ZR 162/88, NJW-RR 1990, 303; BGH, Urteil v. 24.09.1987, III ZR 187/86, NJW 1987, 3256; Schüler, in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 700 Rn. 9 ff.).

Vor diesem Hintergrund ist mehr als zweifelhaft, ob der Bundesgerichtshof aufgrund vorstehender EuGH-Entscheidung den zur Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsfrieden ganz wesentlichen und vom Gesetzgeber auch für das Mahnverfahren gewollten Grundsatz der Rechtskraft zu Gunsten des Verbraucherschutzes im Mahnverfahren vollkommen aufweichen und eine jederzeitige Rechtskraftdurchbrechung dann bejahen will, wenn der dem Vollstreckungsbescheid zugrunde liegende Vertrag AGB-rechtswidrige bzw. -missbräuchliche Vertragsklauseln enthält. Dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass der Gesetzgeber insbesondere auch zum Schutz des Verbrauchers im Verbraucherdarlehensrecht für manche Ansprüche aus einem Verbraucherdarlehensvertrag ausdrücklich das Mahnverfahren ausgeschlossen hat (§ 688 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). 


Beitragsnummer: 21744

Beitrag teilen:

Produkte zum Thema:

Produkticon
Drittschuldnerkommentar Kreditwirtschaft

249,00 € inkl. 7 %

Beiträge zum Thema:

Beitragsicon
Zur Hemmungswirkung eines Mahnbescheid – Begriff der Verhandlung

BGH legt Begriff der Verhandlungen im Zuge der Hemmungswirkung eines Mahnbescheids weit aus.

19.01.2023

Beitragsicon
Rechtskraftdurchbrechung durch EuGH

Nationale Grundsätze der Rechtskraft gelten nur unter dem Vorbehalt, dass die Unionsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt sind.

19.08.2022

Beitragsicon
Kein Widerruf nach vollständiger Erfüllung eines Kreditvertrags

Ein Verbraucher kann sich nach vollständiger Erfüllung aller vertraglichen Verpflichtungen aus einem Kreditvertrag nicht mehr auf sein Widerrufsrecht berufen.

17.04.2024

Um die Webseite so optimal und nutzerfreundlich wie möglich zu gestalten, werten wir mit Ihrer Einwilligung durch Klick auf „Annehmen“ Ihre Besucherdaten mit Google Analytics aus und speichern hierfür erforderliche Cookies auf Ihrem Gerät ab. Hierbei kommt es auch zu Datenübermittlungen an Google in den USA. Weitere Infos finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen im Abschnitt zu den Datenauswertungen mit Google Analytics.