Christoph Martinek, Abteilungsleiter Kredit, Immobilien, Sanierung, Insolvenz, Finanz Colloquium Heidelberg GmbH, zuvor 20 Jahre im Kreditgeschäft (Marktfolge) und insbesondere in der Analyse von Unterlagen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen heimisch – sowohl im „Lebendgeschäft“ als auch in der Problemkreditbearbeitung
Wer die aktuelle Entwicklung der Wirtschaftslage in Deutschland verfolgt, wird nicht gerade von Erfolgsmeldungen verwöhnt. Stellvertretend für eine Reihe von Meldungen steht die Herbstprognose des IfW Kiel: „Hohe Energiepreise drücken deutsche Wirtschaft in Rezession“ (https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/medieninformationen/2022/herbstprognose-ifw-kiel-hohe-energiepreise-druecken-deutsche-wirtschaft-in-rezession).
Die erwartete Rezession i. V. m. der Inflation sowie der Entwicklungen im Energiesektor stellen die gesamte Wirtschaft und damit auch die Kreditinstitute im Bereich „Kredit“ vor deutliche Herausforderungen. Das steigende Zinsniveau könnte bei dem einen oder anderen Kreditnehmer der berühmte „letzte Tropfen“ sein. Die Anforderungen, die sich hinter den Kürzeln „ESG“ verbergen, sind dabei noch nicht berücksichtigt.
Unter den aktuellen gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erscheint es noch komplizierter zu sein, eine treffende (aufsichtsrechtlich geforderte) zukunftsgerichtete Analyse des jeweiligen Kreditnehmers durchzuführen.
Die vor allem in den Jahren der großen wirtschaftlichen Stabilität durchaus mögliche simple Projizierung der Ergebnisse des jeweils aktuellen Jahresabschlusses auf die Folgejahre kann mit Blick auf die aktuellen Verwerfungen grundsätzlich nicht mehr adäquat sein.
Viele Unternehmer werden vor den nachstehend beschriebenen Herausforderungen stehen:
- Die Produktion soll so lange wie möglich reibungslos aufrechterhalten werden.
- Es werden Lieferengpässe bzw. -ausfälle erwartet, i. F. d. werden notwendige RHB-Stoffe frühzeitig und in deutlich erhöhter Menge angeschafft.
- Energie wird weiter geliefert, Kosten erhöhen sich entsprechend.
Ein frühzeitiges Eindecken mit für die Produktion notwendigen RHB-Stoffen führt zum einen dazu, dass höchstwahrscheinlich die Vorjahresvergleichszahlen deutlich von den aktuellen Werten abweichen werden. Wesentlich sind die Auswirkungen auf das working capital und die darauf basierenden Kennzahlen (gilt sowohl für den Jahresabschluss als auch für die BWA).
Betrachten wir hier vor allem die Auswirkungen auf die Liquidität:
Der Anstieg der RHB-Stoffe entzieht dem Unternehmen zunächst Liquidität, sei es mittels Abbaus von Bankguthaben oder Aufbaus von (kfr.) Verbindlichkeiten (LuL/KI/FA).
Der Punkt „Aufbau von Verbindlichkeiten“ ist dabei kritisch zu hinterfragen:
- Welche Zahlungsziele wurden dem Kreditnehmer seitens der Lieferanten gewährt und bestehen noch freie Kreditlinien für weitere Käufe?
- Welche Zuflüsse an liquiden Mittel sind kfr. zu erwarten und wie wirken sich diese auf die Inanspruchnahme der Linie(n) aus? Sind Liquiditätsengpässe zu erwarten? Sind Überziehungen notwendig?
Planungen/Planrechnungen
In der aktuellen Situation verstärkt sich das Spannungsfeld zwischen Vorhersehbarkeit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und der Rolle/Entwicklung des jeweiligen Unternehmens in dieser. Dies erhöht die Notwendigkeit der Erstellung einer fundierten/rollierenden Planung durch den Unternehmer – völlig losgelöst von den durch die Kreditinstitute zu erfüllenden aufsichtsrechtlichen Anforderungen.
Der Fokus der Planung sollte neben der Entwicklung der Liquidität auch auf der Entwicklung der Rentabilität liegen. Sonderfaktoren/einmalige Einflüsse sind mindestens verbal zu benennen (Höhe und Grund), um eine treffende Kapitaldienstberechnung durchführen zu können.
Die deutlich höheren Ausgaben für Energie zählen nach aktueller Einschätzung dabei NICHT zu den „unregelmäßigen Aufwendungen“, da hier die Meinungen mit Blick auf das Anhalten der hohen Preise zu einem eher mittelfristigen Szenario tendieren.
Neben dem „Zahlenteil“ ist zudem eine verbale Kommentierung seitens des Unternehmers notwendig, die zusätzlich zu den Planungsprämissen auch einen kurzen Ausblick auf die geplante Entwicklung gibt, z. B. neue Lieferanten/Abnehmer, neues Produkt, Schließungen von Standorten, Entlassungen, usw. Sofern möglich, wird diese Planung beim Kunden vor Ort besprochen und mit einer Betriebsbesichtigung verbunden.
Erst nach Zusammenführung der einzelnen Komponenten „Analyse Jahresabschluss“, „Analyse BWA“, „Analyse Planung“ und „Kundengespräch inkl. Betriebsbesichtigung“ kann ein möglichst valides Bild des Kunden gezeichnet werden. Je weniger Komponenten in der Beurteilung berücksichtigt werden (können), desto vager wird das Ergebnis.
Denken Sie zudem vom einzelnen Kreditnehmer zum Portfolio, nutzen Sie die Erkenntnisse aus der Einzelanalyse z. B. für ein „Back-Testing“ der Frühwarnkriterien. Halten Sie insbesondere auch Ausschau nach Unternehmen, die operativ nicht mehr erfolgreich am Markt bestehen können, aber noch von der Substanz resp. Krediten künstlich am Leben gehalten werden („Zombie-Unternehmen“) und prüfen Sie, inwieweit eine Anpassung der Strategie notwendig wird.
PRAXISTIPPS
- Der Umfang der vom Kunden einzureichenden Unterlagen sollte bei relevanten Kunden um die Komponente „Planung“ erweitert werden.
- Je volatiler das wirtschaftliche Umfeld, umso kritischer sollte mit einer (sehr) hohen Auslastung der Kapitaldienstgrenze umgegangen werden. Dies gilt auch für das Privatkundengeschäft: prüfen Sie hier auch Höhe und Zusammensetzung der (pauschalen) Lebenshaltungskosten.
- Überwachen Sie die Entwicklung der Überziehungen. Gerade bei größeren (und längeren) sollte eine nachvollziehbare Dokumentation erfolgen, warum diese zugelassen wurden und wie die Rückführung geplant ist.
Beitragsnummer: 21823