Prof. Dr. Hervé Edelmann, Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht, Thümmel, Schütze & Partner, Stuttgart
Im Rahmen eines spanischen Verbandsklageverfahrens, in welchem über 100 Kreditinstitute verklagt und 820 Verbraucher mit eingebunden wurden, legte das spanische Gericht hinsichtlich der Transparenzkontrolle der im konkreten Fall betroffenen Mindestzinsklauseln dem EuGH mehrere Fragen vor.
In seinem daraufhin ergangenen Urteil vom 04.07.2024, C 450/22 (WM 2024, 1700 m. Anm. Schultheiß, BKR 2024, 870 f. sowie Lühmann/Luca, ZIP 2024, 1881 f.), hält der EuGH zunächst fest, dass der Umfang der Pflicht zur klaren und verständlichen Abfassung, in der das für Gewerbetreibende bestehende Transparenzgebot zum Ausdruck kommt, nicht von der Klageart „Individual- oder Verbandsklage“ abhängig sei (Rn. 35). Daher sei die aus Individualklagen hervorgegangene Rechtsprechung zum Transparenzgebot auch auf Verbandsklagen übertragbar (Rn. 36).
Sodann erinnert der EuGH daran, dass das Transparenzgebot nicht nur verlangt, dass eine Klausel in formaler und grammatikalischer Hinsicht für den Verbraucher nachvollziehbar sein muss, sondern auch, dass ein normal informierter und angemessen aufmerksamer sowie verständiger Durchschnittsverbraucher in die Lage versetzt werden muss, die konkrete Funktionsweise dieser Klausel zu verstehen und somit auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien die möglicherweise beträchtlichen wirtschaftlichen Folgen einer solchen Klausel für seine finanziellen Verpflichtungen einzuschätzen (Rn. 37). In diesem Zusammenhang hält der EuGH noch fest, dass sich die Transparenzprüfung im Verbandsklageverfahren – anders im Individualprozess – bereits ihrem Wesen nach nicht auf die Umstände einzelner Situationen beziehen kann, sondern standardmäßige Praktiken von Gewerbetreibenden betrifft (Rn. 39). Hiervon ausgehend müsse, so der EuGH weiter, ein Gericht bei der Transparenzkontrolle prüfen, ob der normal informiert und angemessen aufmerksame sowie verständige Durchschnittsverbraucher zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses in der Lage ist, die Funktionsweise dieser Klausel zu verstehen und die möglicherweise beträchtlichen wirtschaftlichen Folgen dieser Klausel einzuschätzen (Rn. 41). Hierbei müsse das nationale Gericht sämtliche standartmäßigen Vertrags- und vorvertraglichen Praktiken des jeweils betroffenen Gewerbetreibenden berücksichtigen, zu welchen insbesondere der Wortlaut der in Rede stehenden Klausel und ihre Stellung in den verwendeten Musterverträgen, die Werbung für die betroffenen Vertragstypen, die Verbreitung allgemeiner vorvertraglicher Angebote an Verbraucher sowie allen weiteren bei der Transparenzkontrolle vom nationalen Gericht für relevant erachteten Umstände (Rn. 41).
Dies zugrundelegend beantwortet der EuGH die erste Frage dahingehend, dass Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 dahingehend auszulegen sind, dass sie es einem nationalen Gericht erlauben, die Kontrolle der Transparenz einer Vertragsklausel auch im Rahmen einer Verbandsklage vorzunehmen, die sich gegen zahlreiche Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors richtet und eine Vielzahl von Verträgen betrifft, sofern diese Verträge die gleiche Klausel oder ähnliche Klauseln enthalten. (Rn.46).
Die zweite Frage beantworte der EuGH wiederum dahingehend, dass vorstehend erwähnte Normen der Richtlinie dahingehend auszulegen sind, dass sie es einem nationalen Gericht, dass mit einer Verbandsklage befasst ist, die sich gegen zahlreiche Gewerbetreibende desselben Wirtschaftssektors richtet und eine Vielzahl von Verträgen betrifft, erlauben, die Kontrolle der Transparenz einer Vertragsklausel auf der Grundlage der Wahrnehmung eines normal informierten und angemessen aufmerksamen sowie verständigen Durchschnittsverbraucher vorzunehmen, wenn sich diese Verträge an spezifische Verbrauchergruppen richten und die Klausel über einen sehr langen Zeitraum hinweg verwendet wurde (Rn. 57).
Ergänzend hält der EuGH in diesem Zusammenhang noch fest, dass dann, wenn sich während des relevanten Zeitraums die Gesamtwahrnehmung des Durchschnittsverbrauchs in Bezug auf die betroffene Klausel aufgrund des Eintretens eines objektiven Ereignisses oder einer allgemein bekannten Tatsache geändert hat, dass nationale Gericht nicht daran gehindert ist, die Transparenzkontrolle auch unter Berücksichtigung der Entwicklung der Wahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers vorzunehmen, wobei die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestehende Wahrnehmung des Durchschnittsverbrauchers maßgeblich ist (Rn. 57).
PRAXISTIPP
Die vom EuGH aufgestellten Grundsätze, wonach die Transparenzkontrolle im Verbandsklageverfahren anhand eines abstrakten Maßstabes unter Berücksichtigung der Sicht eines Durchschnittsverbrauchers durchzuführen ist, dürften den von der deutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Maßstäben entsprechen (so auch Schultheiß, BKR 2024, 870, 871 u. Lühmann/Luca, ZIP 2024, 1881, 1882). Soweit der EuGH allerdings im Rahmen der Transparenzkontrolle auch Umstände und Merkmale der konkreten Fallgestaltung – wie z. B. die Berücksichtigung der Werbung für den konkret behafteten Vertragstyp – berücksichtigen will, so geht dies über die bisherigen von der höchstrichterlichen deutschen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze hinaus. Insofern bleibt abzuwarten, ob der BGH seine dahingehende Rechtsprechung der des EuGH anpassen wird (in diesem Sinne auch Schultheiß u. Lühmann/Luca, a. a. O.).
Beitragsnummer: 22772