Freitag, 15. Juni 2018

Wechselwirkungen zwischen normativer und ökonomischer Perspektive

Tim-Oliver Engelke, Referent Bankenaufsichtsrecht/Gesamtbanksteuerung, Bereich Regulatorik, Verband der Sparda-Banken e.V. (persönliche Meinung des Autors)

Im Rahmen der stetig fortschreitenden Harmonisierung des europäischen Bankenaufsichtsrechts und speziell des ICAAP wurde das bisherige Konzept zur Ermittlung der Risikotragfähigkeit von Banken in Deutschland grundlegend durch den neuen aufsichtlichen Leitfaden zur Beurteilung bankinterner Risikotragfähigkeitskonzepte überarbeitet. Hierbei ist speziell der im ICAAP geforderte „gegenseitige Input“ (EZB, 2018) der normativen und ökonomischen Perspektive hervorzuheben. Während in MaRisk AT 4.1 schon bisher sowohl der Fortführungsgedanke im Sinne des Going-Concern als auch der Schutz der Gläubiger im Sinne des Gone-Concern von den Instituten anzuwenden war, galt dies bisher lediglich als Best-Practice-Ansatz, da der Großteil der Institute in Deutschland nur einen der beiden Ansätze verwendete. Im Zuge des neuen BaFin Leitfadens zur Beurteilung bankinterner Risikotragfähigkeitskonzepte wird jedoch gefordert, Erkenntnisse und Impulse der normativen Perspektive, welche durch die mehrjährige Kapitalplanung zur Erfüllung aller aufsichtlichen Vorgaben auf einen mittelfristigen Betrachtungshorizont ausgelegt ist, und der ökonomischen Perspektive, welche durch die barwertige Betrachtung des Vermögens und der Risiken einer zukunftsorientierten Betrachtung folgt, gleichermaßen im Zuge gegenseitiger Beeinflussung zu berücksichtigen.

Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Betrachtungshorizonte der beiden Perspektiven gewährleistet, dass bestimmte Risiken, wie in Textziffer 17 des BaFin Leitfadens erwähnt, nur im Zeitverzug auftreten können und demnach unterschiedliche Wirkungen entwickeln. Gemäß Textziffer 17 und 30 sind Risiken, welche sich im Zeitablauf materialisieren und Auswirkungen auf das Risikodeckungspotenzial und den Gesamtforderungsbetrag haben, quantitativ ebenfalls in der normativen Perspektive im Rahmen der Kapitalplanung zu berücksichtigen. Im Sinne des ICAAP soll durch den gegenseitigen Informationsfluss aus den beiden Perspektiven die Kontinuität des Instituts gewährleistet werden. Die EZB betont in diesem Zusammenhang speziell den Begriff der Kontinuität, um sich von Begriffen wie dem Überleben oder der Fortführung des Instituts im Sinne eines ehemaligen Going-Concern zu lösen. Entscheidend ist jedoch, dass die aus der ökonomischen Perspektive über ein Konfidenzniveau von 99,9 % quantifizierten Risiken nicht zwingend direkt im Sinne einer Überleitungsrechnung in die Kapitalplanung der normativen Perspektive übernommen werden müssen. Die Impulse und Auswirkungen der ökonomischen auf die normative Perspektive beziehen sich, trotz der Forderung einer quantitativen Berücksichtigung, verstärkt auf eine qualitative Betrachtung. Eine quantitative Eins-zu-Eins-Übertragung von einer Perspektive in die andere würde dementsprechend zu einer Doppelunterlegung führen.

Die nun folgenden Möglichkeiten zur Berücksichtigung des Inputs zwischen den Perspektiven beziehen sich primär auf die Richtung des Informationsflusses aus der zukunftsgerichteten ökonomischen Perspektive auf die Kapitalplanung der normativen Perspektive in einem adversen Szenario.

Das Zinsänderungsrisiko im Anlagebuch stellt beispielsweise ein Risiko da, welches nicht durch die Anforderungen gemäß der Kapitaladäquanzverordnung abgedeckt ist und sich erst im fortschreitenden Zeitablauf materialisiert. Das Zinsänderungsrisiko kann sowohl im Rahmen einer periodischen und auf Erträge ausgerichteten Sichtweise, als auch aus einer barwertigen und auf den wirtschaftlichen Wert ausgerichteten Sichtweise betrachtet werden. Im Rahmen der periodischen Sichtweise könnte sich das Zinsänderungsrisiko beispielsweise durch einen steigenden Zinsaufwand in der GuV niederschlagen, was dementsprechend eine Verschlechterung der Zinsspanne mit sich bringen würde. Im Rahmen der mehrjährigen Kapitalplanung würde ein geringeres Jahresergebnis im adversen Szenario der Kapitalplanung zu einem in den Folgeperioden verringerten Eigenkapital führen und könnte dementsprechend die Erfüllung der aufsichtlichen Kapitalvorgaben gefährden. Im Rahmen der auf den wirtschaftlichen Wert ausgerichteten Sichtweise führt ein erhöhtes Zinsänderungsrisiko zu einer Bildung von „Drohverlustrückstellungen“ in der Bilanz oder „sonstigen betrieblichen Aufwendungen“ und somit einem Abschreibungsbedarf in der GuV gem. IDW RS BFA3. Dies basiert auf dem Sachverhalt, dass die ökonomische Perspektive mögliche Langzeiteffekte berücksichtigt und das Vermögen im Zeitpunkt t0 zum Zeit- bzw. Barwert betrachtet. Die normative Perspektive setzt hingegen auf buch- und aufsichtliche Werte auf. Bei einem ad hoc ansteigenden Zinsniveau würde gem. IDW RS BFA3 der Buchwert den Barwert des Bankbuchs übersteigen, womit unrealisierte Verluste im Bankbuch verbunden wären, welche in der Bilanz und der GuV auszuweisen wären. Des Weiteren kann ein erhöhtes Zinsrisiko auf die mit einem Zinsänderungsrisiko behafteten Geschäfte im Bestand des Anlagebuchs, über den barwertig berücksichtigten 200-Basispunkte-Schock des Instituts, zu einem Bucket-Wechsel gemäß der Zuschlagsmatrix des SREP-Kapitalzuschlags führen. Das Institut hätte demnach in den Folgejahren eine erhöhte SREP-Gesamtkapitalanforderung (TSCR) einzuhalten. Eine etwaige Erhöhung des SREP-Zuschlags wäre speziell für Institute von Relevanz, welche sich bereits an einer Grenze zwischen zwei Zuschlägen innerhalb der Zuschlagsmatrix befanden und die bestehende TSCR im adversen Szenario nur knapp einhalten konnten.

Eine weitere, sich erst im fortschreitenden Zeitablauf materialisierende Risikoart besteht in Form des Liquiditätsrisikos. Entscheidend ist jedoch hier der unterschiedliche Anwendungsumfang für die direkt durch die EZB beaufsichtigten signifikanten Institute (SI) und die direkt durch die BaFin und Bundesbank beaufsichtigten weniger signifikanten Institute (LSI). Während die EZB den ICAAP und ILAAP eng miteinander für die SI verzahnt sieht und man teilweise schon vom „ICLAAP“ spricht, beabsichtigt die BaFin für die LSI im neuen RTF-Leitfaden lediglich eine Berücksichtigung von erhöhten Refinanzierungskosten im adversen Szenario. Die Implementierung eines ganzheitlichen ILAAP für die LSI im Zuge des RTF-Leitfadens ist seitens der BaFin nicht beabsichtigt. Der Fokus liegt primär darauf, im Zuge der individuellen Risikoanalyse das Blickfeld auf weitere wesentliche Risiken zu erweitern. Die Ursache einer Liquiditätskrise besteht unter anderem in einem Vertrauensverlust bezogen auf die Zahlungsfähigkeit des jeweiligen Kontrahenten, ausgelöst durch eine Informationsasymmetrie und Intransparenz am Interbankenmarkt (Schlenker, 2015). Analog zum Zinsänderungsrisiko würden steigende Liquiditätsspreads zu einer verschlechterten Zinsspanne und demnach einem niedrigeren Eigenkapital in den Folgeperioden der Kapitalplanung führen.

Als weiterer Punkt wird im Beispiel zu Textziffer 67 des RTF-Leitfadens das Credit-Spread-Risiko dargestellt. Die Verschlechterung der Bonität eines Kreditnehmers oder die Abweichung des Spreads eines Finanzinstruments im Vergleich zum Markt führt bei einer absehbaren, dauerhaften Wertminderung zu einem Abschreibungsbedarf in der GuV oder der Notwendigkeit zur Bildung stiller Lasten. Gemäß Bünte (2009) führt die Vernachlässigung von Credit-Spread-Risiken in der Beurteilung der Risikotragfähigkeit zu einer deutlichen Unterschätzung des möglichen Abschreibungsbedarfs. Zur Verdeutlichung führt Bünte (2009) das Beispiel der Commerzbank aus dem Jahre 2007 an, welche im Zuge gestiegener Spreads einen Verlust von knapp 700 Millionen Euro im festverzinslichen Wertpapierportfolio verzeichnen musste.

 SEMINARTIPPS

Neuer aufsichtlicher Leitfaden zur Risikotragfähigkeit, 18.10.2018, Köln.

Stolpersteine bei der Verknüpfung der Kapitalplanung mit der RTF-Planung, 22.11.2018, Köln.

Deutlich anspruchsvollere Vorgaben für die Kreditportfolio-Steuerung, 19.11.2018, Köln.


Ein zusätzliches, nur in der ökonomischen Perspektive erkennbares Risiko besteht zudem im Migrationsrisiko in Form von Ratingverschlechterungen, welche erst im Zeitablauf erkennbar werden. Die direkte Berücksichtigung von Migrationsrisiken in Kreditportfoliomodellen oder durch eine Verschiebung von bonitätsstufenabhängigen Risikogewichten im Kreditrisiko-Standardansatz (KSA) führt zu einer Erhöhung des Gesamtforderungsbetrages (RWA). Steigende RWA-Summen führen in den Folgeperioden demnach zu einer Verschlechterung der aufsichtlichen Kapitalquoten. Entscheidend ist jedoch, dass bis in den Ausfallstatus migrierte Positionen im Zuge einer Verschiebung der Risikogewichte nicht komplett aus der Risikomessung entfernt werden können und weiterhin in der Summe der RWA und demnach dem Nenner der aufsichtlichen Kapitalquoten Berücksichtigung finden müssen.

Als letzter Punkt ist noch die Summe weiterer ggf. wesentlicher Risiken zu erwähnen, welche sich beispielsweise in Form des Geschäftsrisikos, des Töchterrisikos und des Marktpreisrisikos im Rahmen des „Kapitalzuschlags aufgrund weiterer wesentlicher Risiken“ der BaFin im Zeitablauf manifestieren können. Speziell ein steigendes Geschäftsrisiko könnte zu steigenden Kosten und demnach einem niedrigeren Jahresergebnis in der GuV führen. Analog zum Zinsänderungsrisiko können erhöhte wesentliche Risiken zudem zu einem Bucket-Wechsel im Rahmen des SREP-Zuschlags führen. Ein im adversen Szenario erhöhtes Geschäftsrisiko wird zu den übrigen Nicht-Säule-1-Risiken addiert und ins Verhältnis zum Gesamtrisikobetrag gesetzt. Bei gleichbleibender Risikoprofilnote kann sich in der Zuschlagsmatrix demnach ein anderer Kapitalzuschlag in Prozentpunkten für das Institut ergeben.

Entscheidend bei der Berücksichtigung des Zusammenspiels und des sich gegenseitig beeinflussenden Informationsflusses der beiden Perspektiven ist demnach die Identifizierung und Auseinandersetzung mit institutsindividuellen Risiken, welche sich erst im Zeitablauf manifestieren können. Indem das Institut den Blick auf weitere, bisher nicht beachtete Risiken und Szenarien erweitert und Risiken aus unterschiedlichen Betrachtungshorizonten gleichermaßen berücksichtigt, wird ein vollständigeres Bild über die Anfälligkeiten des Instituts geschaffen. Die qualitative Analyse des institutsspezifischen Risikoprofils, der Strategie und des Umfelds ist demnach wichtiger, als der quantitative Impact und die Festlegung eines spezifischen Konfidenzniveaus zur Messung der Risiken per se.

Praxistipps:

  • Das Institut sollte sich im Rahmen der qualitativen Analyse des Risikoprofils und der Risikoinventur umfassend mit den institutsindividuellen Anfälligkeiten und Schwächen auseinandersetzen.
  • Die normative und die ökonomische Perspektive sind eng miteinander verzahnt und sollten auch dementsprechend gesteuert werden. Eine silobasierte Betrachtung und Steuerung der beiden Perspektiven kann die Kontinuität des Instituts nicht umfassend gewährleisten.
  • In die Klasse „ausgefallene Forderungen“ migrierte Positionen sind in der Risikomessung und im Gesamtforderungsbetrag weiterhin zu berücksichtigen und verschwinden nicht aus der Betrachtung.
Quellen:

BaFin (2018): Aufsichtliche Beurteilung bankinterner Risikotragfähigkeitskonzepte und deren

prozessualer Einbindung in die Gesamtbanksteuerung („ICAAP“) – Neuausrichtung.

BaFin (2018): Konferenz zum Thema Risikotragfähigkeitsleitfaden (29.05.2018).

Bünte, Dominik (2009): Integration von Spreadrisiken in die Kreditrisikomessung, Kreditwesen 13/2009.

EZB (2018): Leitfaden der EZB für den internen Prozess zur Beurteilung der

Angemessenheit des Kapitals (Internal Capital Adequacy Assessment Process – ICAAP).

Schlenker, Philip (2015): Die neue Basler Liquiditätsrisikoregulierung: Auswirkungen der LCR auf Banken, Geschäftsmodelle und die Stabilität des Finanzsystems, Igel Verlag RWS.



Beitragsnummer: 710

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