EDITORIAL
Liebe Leserinnen
und Leser,
als ich noch zur Schule ging, haben wir einmal eine
Geschichte zu Weihnachten gelesen. Ein Waisenhaus
vor langer Zeit, als ein Teller Orangen und
Nüsse zu Weihnachten noch ein großes Geschenk
war. Nur die braven Kinder erhielten zu Weihnachten eine Orange –
die einzige im ganzen Jahr. Der kleine Junge in unserer Geschichte
war aber nicht brav gewesen. Er hatte versucht, aus dem Waisenhaus
abzuhauen und war erwischt worden. Und obwohl er dafür bereits
bestraft worden war, wusste er, dass ihn zu Weihnachten die zweite
Strafe erwarten würde, wenn alle anderen Kinder ihre Orange bekommen
und nur er allein leer ausgehen würde. Und tatsächlich wurde er
abends in den Schlafsaal gesperrt, während die anderen Kinder sich
ihre Orange abholen durften. Er legte sich ins Bett und weinte. Doch
dann hüllte ihn der süße Duft von frischen Orangen ein; ein anderer
Junge schüttelte ihn an der Schulter und hielt ihm eine bereits
geschälte Frucht entgegen. Erst verstand er nicht, warum auch er ein
Geschenk bekam, wo er doch sein Recht darauf verwirkt hatte. Doch
dann sah er, dass auch alle anderen Kinder um ihn herumstanden,
ihre geschälten Orangen in der Hand, und er verstand, dass die anderen
alle bereits ihre kostbare Orange geöffnet und jeder eine Spalte
gegeben hatte, um daraus für ihn eine Frucht zusammenzusetzen.
Diese Geschichte hat sich bei mir bis heute eingeprägt, weil sie für
mich das verkörpert, was Weihnachten eigentlich ausmacht: selbstlose
Nächstenliebe. Für viele von uns bedeutet Weihnachten allzu
oft Last-Minute-Geschenkemarathon, das Menü muss mindestens
5 Gänge haben und dabei Optionen für viele verschiedene Geschmäcker
bieten, Christbaumtraditionalisten treffen auf Familienmitglieder,
die lieber R2D2 eine Lichterkette umhängen würden. An den Feiertagen
müssen möglichst viele verschiedene Familientreffen unter
einen Hut gebracht werden, dann schnell die ungewollten Geschenke
umtauschen, bevor man schließlich in den Ski-Urlaub verschwindet,
um sich die Weihnachtspfunde vor Silvester möglichst noch von den
Hüften zu wedeln. Sie mögen mir die überspitzte Darstellung verzeihen.
Dieses Jahr ist aber alles anders. 2020 zwingt uns, an- und innezuhalten;
nachzudenken, was Weihnachten für uns bedeutet und was
uns wirklich wichtig ist. Wir wünschen uns das große Fest, die Feier
mit der Familie, alles möglichst „wie immer“ (denn auch der Stress
gehört ja irgendwie schon dazu). Doch dieses Jahr kann es das größte
Geschenk für manche Verwandte sein, sie nicht zu besuchen – selbstlos
(da ist es wieder, dieses Wort) eben an unsere Nächsten zu denken.
Damit einher geht, dass viele Menschen dieses Jahr an Weihnachten
einsam sein werden. Zeit vielleicht, sich zu besinnen, dass auch
ein Anruf oder Brief große Freude machen kann – nicht nur an Weihnachten.
Ich wünsche Ihnen allen, dass Sie dieses Jahr neue Wege
finden, mit Ihren Lieben den Kontakt zu halten. Traditionell erwarten
wir im Advent, der Zeit der „Ankunft“, die Geburt von Jesus als das
„Licht der Welt“. Aber auch für die unter uns, die nicht Christ sind, die
Weihnachten nicht feiern, beginnt mit der Sonnenwende die Rückkehr
ins Licht. Zu einer Hoffnung, dass auch dieser Winter ein Ende
hat. Hoffnung auf einen neuen Sommer.
In diesem Sinne wünsche ich allen unseren Lesern frohe Festtage und
einen guten Rutsch in ein hoffentlich in jedem Sinne helleres 2021.
Claudia Merklinger
Leiterin Verlag, Schriftleiterin BankPraktiker